Angeregt durch das neue Selbstbestimmungsgesetz und einen Vortrag von Carolin Emcke auf der re:publica 2024 zu queerem Leben in Deutschland ist mir meine Tante Maria eingefallen.
Tante Maria war eine enge Verwandte, die in unserer Familie eine große Rolle gespielt hat. Sie war unsere Patentante, wir Kinder verbrachten gerne Kurzurlaube bei ihr, weil sie Erzieherin in einem Kindergarten war, in dem wir am Wochenende spielen durften; sie fuhr mit unserer Familie in den Urlaub – sie war also ein bisschen wie eine „Institution“ in unserer Familie.
Tante Maria lebte allerdings nicht alleine, sie lebte bis beinahe an ihr Lebensende mit einer Frau zusammen, mit Tante Grete. Die beiden teilten alles: Sie wohnten zusammen, sie hatten ein gemeinsames Auto, sie arbeiteten zusammen als Erzieherinnen im gleichen Kindergarten, sie besuchten uns gemeinsam. Auch Tante Grete war Patentante einer meiner Schwestern – die beiden wurden so gut wie immer in einem Atemzug genannt: Tante Maria und Tante Grete. Alle wussten, dass sie ein gemeinsames Schlafzimmer hatten, dass sie gemeinsam die Finanzen regelten, dass sie eben wie ein klassisches Ehepaar lebten. Nur die Urlaube wurden teilweise getrennt gestaltet: Tante Grete war eine begeisterte Wanderin und hatte für diese Zwecke eine andere Freundin, die mit ihr in Urlaub reiste, Tante Maria war herzkrank, konnte deshalb bei den Wanderungen nicht mithalten und machte mit uns Familienurlaub.
In der Gemeinde, in der sie lebten und die rund 10.000 Einwohner*innen zählte, waren sie bekannte und angesehene Persönlichkeiten. Nicht nur als Erzieherinnen des kirchlichen Kindergartens, sondern auch als Mitglieder des Kirchengemeinderats und vielseitig ehrenamtlich Engagierte im Ort. Für niemand war die Lebensweise der beiden ein Geheimnis.
Für uns Kinder war es selbstverständlich, dass Tante Maria und Tante Grete in einem Ehebett schliefen. Nichts erschien uns befremdlich, wenn wir dort für ein paar Tage sein durften. Und Tante Grete begleitete uns Rat gebend durch die Pubertät, in dem sie unsere Probleme ernst nahm und sich auch bei unseren Eltern für uns einsetzte.
Es gab nur eine Sache, die uns eben in der Pubertät zunehmend irritierte: die Sache zwischen Tante Maria und Tante Grete hatte keinen Namen!
Onkel Walter war der Mann von Tante Erna, der Schwester meines Vaters, Onkel Karl war alleinstehend, Tante Suse war die Frau vom Bruder meiner Mutter, aber was war Tante Grete? Sie war halt Grete, aber nie die Partnerin von Maria, der Schwester meiner Mutter. Nein, es durfte, konnte nicht benannt werden.
Maria war Jahrgang 1920 und wuchs nicht nur in einer streng pietistischen Familie auf, sondern auch in einer Zeit, in der Homosexuelle schwer geächtet wurden und im KZ landeten. Da war es doch besser, wenn diese Form des Zusammenlebens keinen Namen hatte und dadurch niemand Verdacht schöpfen konnte. Und dies blieb auch so bis an ihr Lebensende Anfang der 2000er Jahre. Selbst als ich, die ich schon über viele Jahre in Frauenbeziehungen lebte, nach ihrem Tod vorsichtig versuchte, die Lebensweise meiner Tante als lesbisch zu bezeichnen, stieß ich bei der älteren Generation auf heftigen Widerstand. Nein, Maria war auf gar keinen Fall lesbisch! Das Zusammenleben der beiden durfte auch dann noch keinen Namen bekommen!
Wie wäre wohl das Leben von Maria verlaufen, wenn sie schon damals in eine (Selbsthilfe)Gruppe hätte gehen können, die sie darin unterstützt hätte, ihrer Form des Lebens einen Namen zu geben und ganz selbstverständlich von ihrer Partnerin Grete zu reden? Wenn es auch in kleinen Gemeinde schon selbstverständlich Orte gegeben hätte, in denen sie sich unbeschwert als Frauenpaar hätten bewegen können?
Dieses hohe Gut, das über Jahrzehnte hart erkämpft wurde und das es uns ermöglicht, das Leben ohne Wertungen gestalten zu können, gilt es jetzt zu erhalten und alle demokratischen Mittel dafür einzusetzen, dass es uns nicht wieder genommen wird.