Bild: unsplash.com (Jacqueline Munguia)

AUTISTIN? Nein, DU doch nicht!

Um das Thema „Autismus bei Frauen und Mädchen besser zu verstehen“ ist mir bewusst, dass ich tiefe Einblicke in mein Seelenleben geben muss, um aus meiner Sicht etwas dazu zu schreiben. Aber wenn es hilft, auch nur ein autistisches „unauffälliges“ Kind besser zu verstehen, dann nehme ich das in Kauf.

Vorab: dies ist meine persönliche Geschichte. Andere Autisten und insbesondere die, die schon länger ihre Diagnose haben, werden wahrscheinlich andere Möglichkeiten der Kompensation gefunden haben. Jeder von uns zahlt für die Anpassung einen anderen Preis und niemand, wirklich niemandem steht zu, diesen zu beurteilen und möglicherweise für bezahlbar zu halten.

Ich habe meine Mutter mit 2 Jahren verloren und damit den letzten Rest an Sicherheit und Geborgenheit, den ich bis dahin wahrscheinlich gekannt habe. Sie starb nicht, aber sie ging und überließ mich einem völlig überforderten Vater der sich dazu eine Frau suchte, deren Spezialität es jedenfalls nicht war, mit Kindern umzugehen. Meine erste Lektion, an die ich mich erinnere und die lange mein „Mantra“ war: Es kommt niemand, wenn du weinst. Es kommt auch niemand, wenn du schreist. Niemand hilft dir, du musst dir selbst helfen, dich anpassen, wenn du überleben willst. Das klingt drastisch, aber es war so. Niemand sah meine Not und sehr wahrscheinlich konnte ich mich auch nicht richtig äußern. Aber ich war nicht dumm und so lernte ich schnell, was ich tun muss, um nicht geschlagen oder ausgelacht werden. Ich bin nicht in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen – meine Eltern nahmen mich mit ins Ausland und dort in die besten Restaurants und ich lernte schon als Vorschulkind Kenia, Thailand und weitere Länder kennen. Die Grausamkeit kam von anderer Seite, nämlich, wenn man mir damals, vielleicht mit 5 Jahren, eine Seezunge vorsetzte und sich dabei köstlich amüsierte, dass ich sie nicht filetieren konnte und durch die Gräten, die ich mit dem Fisch vermischte dann auch hungrig vom Tisch aufstand. Allerdings lernte ich so eine zweite wichtige Lektion: beobachte und lerne! Schau dir an, wie andere Menschen es machen, bringe es dir selbst bei und tue alles, um nicht hungern zu müssen oder geschlagen zu werden.

Daraus wurde meine – neben weiteren – eines meiner liebsten Spezialinteresse: das Verhalten anderer Menschen zu beobachten, analysieren und kopieren. Früher las ich Bücher über Bücher – wunderte mich aber, weshalb ich die Menschen in den Büchern verstand, aber ein menschliches Gegenüber nicht. Heute weiß ich, dass man in Büchern auch die Gedanken der Menschen schildert – wenn mir ein Mensch gegenübertritt habe ich meist überhaupt keine Ahnung, was er denkt. Auch ein Lachen kann nett gemeint sein, aber vielleicht geschieht es aus Verlegenheit, oder man lacht mich aus.

Mit den Jahrzehnten lernte ich immer mehr dazu. Wieder teilweise daraus, dass man über mich tuschelte, denn in der Bank, in der ich arbeitete, bemerkte man schnell, dass ich die Regel „Businesskleidung“ zwar einhielt, aber es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, dass man Kleider auch dann nicht mehr trägt, wenn sie sauber sind und auch nicht müffeln, sondern man sich täglich etwas Anderes anzieht. Diese Regel habe ich bis heute nicht verstanden, aber ich merke mir inzwischen, was ich an welchen Tagen anhatte, um diese ungeschriebene, für mich unsinnige Regel nicht mehr zu brechen. Meinetwegen hätte ich auch nur ein oder zwei paar Schuhe, aber auch das wird in bestimmten Kreisen nicht geduldet, beziehungsweise es wird negativ Notiz davon genommen.

Irgendwann kam das Fernsehen hinzu, um mich in meinen Fertigkeiten zu schulen – als Kind durfte ich nicht fernsehen. Müßig zu erwähnen, dass dies nicht zu meiner Integration beitrug. Ich konnte über keine Sendung mit anderen Kindern sprechen, aber ich bin mir auch nicht sicher, ob das etwas daran geändert hätte, dass man mich von der 1. bis zur 10. Klasse gemobbt und gehänselt hat. Ich verstand die Beziehungen der Kinder untereinander nicht und egal was ich tat, ich gehörte nicht dazu. Nehmen wir einfach mal an, die Lehrer hätten es nicht bemerkt. Wahrscheinlich war es ihnen schlichtweg egal, denn ich war eine gute Schülerin, ohne überhaupt zu lernen. Der Grund dafür war, dass ich die strengen Regeln der Schule liebte, man ganz einfach eine Antwort auf eine Frage gibt (kein Smalltalk) drumherum, die Lehrer sich mit einem „Guten Morgen“ zufriedengeben und nach der Stunde einfach gehen, ich sehr wissbegierig bin und das Wichtigste: alles war besser als mein Zuhause. Wenn Unterricht ausfiel, waren alle Kinder glücklich…nur ich nicht, davon abgesehen, dass mein Tagesplan unterbrochen wurde.

In dieser Zeit war es mein Teddy (ja, auch noch als Teenager, es darf gelacht werden), dem ich alles erzählte und der mich nie verpetze. Und die Nächte. Ich stellte mir oft den Wecker auf 3:00 Uhr und blieb zwei Stunden wach. Es war so schön dunkel (schon damals mochte ich keine Sonne, fühlte mich geblendet und tat alles, um im Haus zu bleiben. Was nicht schwer war, denn ich hatte eh die meiste Zeit Hausarrest), ruhig und ich konnte mir einbilden, ganz alleine auf dieser Welt zu sein. Diese ruhigen Nächte waren es, die mich haben atmen lassen – und meine Bücher. Zu dieser Zeit schrieb ich Tagebuch und richtete meine „Briefe“ an Anne Frank. Für mich kam nur sie mit ihren Erfahrungen an das heran, was ich täglich fühlte – irgendein „Kainsmal“ (Judenstern) zu tragen, der mich zur Außenseiterin machte und jedem das Recht gab, mir weh zu tun. Heute ist es so, dass ich mich immer noch nicht zur Menschheit zugehörig fühle, zumindest nicht zu den meisten. Aber ich weiß inzwischen, dass ich nicht alleine bin und alleine dafür bin ich für die Diagnose sehr dankbar.

Mit den Jahren lernte ich immer mehr, meine Maske zu verbessern. Sie ist inzwischen so gut, dass die allermeisten Menschen sich davon blenden lassen. Es ist im Prinzip auch ganz einfach: man muss auf die Kleidung achten (hilfreich ist da ein Teenager wie meine Tochter, der sich mit aktueller Mode auskennt), diese auch regelmäßig wechseln und vor allem nicht ungeschminkt aus der Tür zu gehen und das Wichtigste: lächeln! Inzwischen ist das für mich regelrecht zum Ritual geworden. Zu Hause trage ich meine „Zuhausekleidung“ wovon ich nicht viel habe und brauche und wenn ich rausgehe, male ich mir meine perfekte Maske auf und schalte in den Überlebensmodus. Das ist nicht übertrieben und manchmal merke ich schon vorher, dass ich der Welt nicht gewachsen bin und sage Termine ab. Auf keinen Fall würde ich es nochmal riskieren, so ausgelacht und ausgegrenzt zu werden, wie es als Kind geschah und womöglich noch in einen Overload zu geraten. Meistens muss ich mich zu den Terminen zwingen. Paradoxerweise möchte ich zur Gesellschaft gehören, auch wenn fälschlicherweise oft angenommen wird, dass Autisten keine Freunde wollen und brauchen. Nein, das stimmt nicht – sie wissen oft nur nicht, wie man eine Freundschaft aufbaut und vor allen Dingen erträgt. Eine Freundschaft beinhaltet so viele Regeln und ehrlich – ich bin noch nicht dahinter gestiegen. Es funktioniert nur, wenn man akzeptiert, dass ich nur unregelmäßig zur Verfügung stehe und mich selten von mir aus melde – auch wenn ich merke, dass ich mich freue, wenn mich beispielsweise Silke anruft. Aber das Bedürfnis nach Kontakt meldet sich bei mir selten, oder ich habe noch nicht gelernt es zu identifizieren. Das ist der nächste wichtige Punkt: ich schaffe es nicht immer deutlich zu machen, dass mir eine Situation Zuviel wird. Ich halte aus und halte aus, weil man das früher von mir verlangt hat und ich mir heute auch oft nicht gestatte, zu gehen, bevor es zum Overload führt und es tatsächlich auch nicht bemerke, dass es mir Zuviel wird. Natürlich – nach außen wirkt das toll. Wie oft höre ich, dass es anderen Menschen ähnlich mit Licht oder Geräuschen geht oder noch ganz anderen Sachen. Es ist wirklich zum verzweifeln und ich kann es nur so erklären, wie es ein autistischer Freund es immer erklärt: Man muss sich ein Mosaikbild vorstellen, aus ganz vielen kleinen Steinchen. Ein paar Steine (autistische Züge) hat jeder Mensch, aber es braucht eine gewisse Anzahl, bis man das Bild erkennt. Dabei haben alle Autisten ganz unterschiedliche Steinchen, jeder ist verschieden. Bei manchen ist das volle Bild sofort deutlich, bei anderen muss man genauer hinsehen – aber genau diese laufen Gefahr, übersehen zu werden.

Die Kosten dafür sind hoch. In meinem Fall ist es so, dass ich – wie schon beschrieben – nicht aus dem Haus gehe, wenn ich nicht das Gefühl habe, die Maske aufrecht erhalten zu können. Das kann auch mal wochenlang sein und dann gehe ich auch nicht ans Telefon. Andererseits halte ich einige Dinge lange aus, wie beispielsweise einen Elternstammtisch. Ich möchte ja nicht, dass man annimmt, dass die Mutter meiner Kinder irgendwie „verrückt“ ist. Dann zwinge ich mich, durchzuhalten und ich möchte wetten, dass nicht einer der anderen Teilnehmer merkt, wie es mir innerlich geht. Danach gehe ich in mein Schlafzimmer, das eh immer abgedunkelt ist – genauso wie mein Wohnzimmer. Es dürfen keine Geräusche mehr zu hören sein und manchmal brauche ich Tage, um mich zu erholen. Manchmal ist das Gefühl der Überreizung so schlimm, dass ich Tavor nehmen muss. Tavor ist eh etwas, ohne das ich nicht zum Arzt gehe – überhaupt bin ich auf Medikamente angewiesen, denn ohne schlafe ich nicht. Den Wecker muss ich mir schon lange nicht mehr stellen; nehme ich nichts, bin ich nach ewig langer Einschlafphase schon nach 2 Stunden wach, mein Kopf kommt einfach nicht zur Ruhe. Dialoge werden immer und immer wieder durchgespielt und ich kann nicht anders, als zu überlegen, ob ich die richtige Antwort auf Fragen gegeben hat. Es gibt so viele Möglichkeiten…Bis ich überhaupt erstmal gemerkt habe, dass man nicht immer auf jede Frage antworten muss! Auch das habe ich von den vielen Filmen gelernt, die ich mir immer in Hinblick darauf ansehe, wie andere Menschen auf bestimmte Situationen reagieren. Schon oft saß ich völlig perplex vor dem Fernsehen, weil mir eine Reaktion völlig fremd war. Gefiel sie mir aber, habe ich sie in mein Repertoire aufgenommen. Überhaupt ist es so, dass ich auf andere so reagiere, wie ich es in meiner Situation tun würde oder wie ich es schon einmal erlebt oder gesehen habe. Dabei geschieht nichts dabei, ohne dass ich darüber nachgedacht habe. Andere Menschen scheinen intuitiv zu handeln – das ist mir fremd.

Mir ist bewusst, dass ich das Glück habe, gute kognitive Fähigkeiten zu besitzen und kompensieren zu können. Manchmal ist das aber auch ein Unglück, nämlich dann, wenn man von mir Dinge als selbstverständlich voraussetzt, die ich nicht leisten kann und die mir niemals Freude bringen würden. Der Abi-Ball beispielsweise. Im Nachhinein erfuhr ich, dass man mir einen Preis geben wollte, weil ich mit 5 Kindern das Abitur nach 20 Jahren aus der Schule und mit Auslassen der 11. Klasse bewältigt habe. Innerlich brach mir bei diesem Gedanken der Schweiß aus, denn es hätte keine größere Strafe geben können. Nach außen lächelte ich, als man mir das erzählte. Alles okay. Niemand hat etwas von meinen Gefühlen bemerkt.

Abschließen möchte ich mit einer kurzen Konversation, die ich mit einem autistischen Freund führte. Ich erzählte ihm, dass ich mich im Leben oft wie in einem Spiel fühle, dessen Regeln ich nicht kenne – aber alle drumherum tun es und es ist auch kein Spiel, denn es geht um das Überleben. Weiterhin habe ich das Gefühl, ständig schauspielern zu müssen, den mein „wahres, autistisches Ich“ wird einfach nicht akzeptiert. Er beruhigte mich. „Birke“, sagte er, „die NT´s schauspielern auch. Sie wissen es nur nicht!“*

Gastautorin: Birke Opitz-Kittel

 

*Anmerkung der Blog-Redaktion: „NT´s  bedeutet „Neurotypische“ oder „Nichtautistische Menschen“ in Abgrenzung zu Autist*innen.“

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