Bild: pexels.com (Markus Spiske)

Dinge im Kopf  

(erzählt von German W. aus Danzig) 

 

Im Elternhaus war Alkohol immer präsent. Es gab die besten Sorten, die man nur auftreiben konnte, wenn jemand aus dem südlichen Ausland zurückkam und etwas mitbrachte. Natürlich bot auch die heimische Industrie sicherere Produkte als früher an, aber sie wurden nicht gekauft – aus Mangel an Bedarf. 

Ich erinnere mich, wie wir einmal Gäste hatten, und ich schon alt genug war, um mir meiner selbst bewußt zu sein — ich war bestimmt vier oder bereits fünf Jahre alt. Am gedeckten Tisch in der Küche wurde der Wodka „Botschafter“ gelobt, der auf wundersame Weise in unser Haus gelangt war, und mir wurde sogar angeboten, einen Schluck davon zu nehmen. Ich wehrte mich lange, gab dann aber unter dem Druck der elterlichen Autorität nach, und steckte meine Zunge in das Gläschen. Es schmeckte nicht sonderlich attraktiv, aber zugleich auch nicht ekelhaft. 

Wodka, der in meiner Jugend für viele meiner heute schon längst verstorbenen Freunde alltäglich wurde, hatte ich damals nicht getrunken. Ich probierte ihn zum ersten Mal am Geburtstag meines guten Schulfreundes, dessen Eltern aus irgendeinem Grund zu jedem seiner Geburtstage einen Tisch mit Alkohol deckten, einschließlich Wodka. Ein Jahr zuvor war ich auch schon dort gewesen, kam aber nicht über Qualitätswein hinaus. In dem Jahr, in dem ich 14 wurde, probierte ich dann auch Wodka. Und vergaß ihn für etwa sieben Jahre. 

Natürlich „alberten“ wir in der Schulzeit mit süßen alkoholischen Getränken herum, und versuchten, den Augen unserer Eltern dabei zu entgehen, denn unsere Eltern selbst entflohen uns, um ein etwas freieres Leben fern von der Last ihrer erzieherischen Aufgaben zu führen. Ich wurde oft allein zu Hause gelassen und hatte nur Bücher und die hochwertigen Weine in meiner Reichweite. Vielleicht hat das Vorhandensein einer Alternative zum Wein in Form von Büchern mich dazu bewahrt, heute diese Zeilen schreiben zu können. Was mir gerade noch dazu einfällt: Heute sind manche Eltern um Einiges weiter von ihren Kindern entfernt. 

Natürlich gab es auch Hobbyzirkel, Sport, Schule mit zusätzlichen Lehrgängen, und ich konnte oft wählen, gar nicht zu trinken. Aber ich orientierte mich nicht rechtzeitig richtig in meinem Leben, was später zu Schwierigkeiten in der Schule oder bei der Arbeit führte konnte, und es war sogar im Wehrdienst ein Vorfall, wo wir mit Kameraden beschlossen, irgendeinen Eau de Cologne vor lauter Nichtstun zu probieren. Einer von uns war ein schrecklicher Neurotiker, deshalb wurden wir bei dieser unansehnlichen Beschäftigung „ertappt“. 

Nicht etwa, daß ich so viel getrunken hätte, und nicht etwa daß ich nicht in der Lage gewesen wäre, zu einer Prüfung zu gehen oder einen Arbeitsabschnitt fertig zu bringen — doch einmal ist das passiert, als mir nach zwei erfolgreichen Arbeitstagen und einem Bankett danach, gleich am nächsten Morgen, an dem alle anderen noch nicht wirklich wach waren, gesagt wurde, dass man meine Dienste nicht weiter von Nöten seien. Direkt von dort aus ging ich über ein paar Kneipen zu meinem neuen guten Bekannten, um mit ihm diese unangenehme Passage weiter zu feiern, aber er machte aus seiner Betrunkenheit heraus nicht auf, und ich schlief auf einer Bank im Sommerhof ein, und mein Aktenkoffer verschwand. Wie sich später herausstellte, hatte mein Kumpel mich an der Tür klopfen einfach nicht gehört, und ich bedauerte später eher, dass ich die Nacht nicht im Rausch mit den anderen verbracht hatte. Daß ich durch meine Trinkerei einen relativ lukrativen Job verloren und jemanden im Stich gelassen hatte, fiel mit gar nicht einmal auf. 

Damals begann ich zu ahnen (aber nicht zu verstehen), daß der Alkohol etwas in mir hochholte, das seit Jahren in mir schlummerte und meinen Verstand dazu brachte, dies ab und an mit voller Wucht zum Vorschein bringen zu wollen. Es war eine Art ewiger Konflikt mit der Welt, eine Suche nach Anerkennung, Aufmerksamkeit, Vergnügen und Belobung, eine Forderung danach, bei der nach dem betrunkenen Schlaf nur noch das Brennen dieses Verlangens im Kopf blieb, das Nachschlecken des Unverstandenen und Unerklärten – und auch Qualen, die mit den körperlichen Qualen einhergingen, die von Jahr zu Jahr stärker wurden. 

Natürlich wurde ich mit der Zeit von meinem Verhalten beunruhigt und wandte mich dem Vegetarismus, dem Fasten, dem Gebet und der Abstinenz zu, was einige Jahre andauerte. Mein Kopf aber war voller alter „Dinge“, und eines Tages endete diese hellere, etwas besinnlichere Zeit, von der einige Minuten auf einer Videokassette aufgenommen wurden, auf der ich ruhig und fröhlich wie ein Buddha zu sein schien. Ich erschien damals eines Tages auf einem Bahnsteig, mit kompliziertem Buch in der Hand, und etwas in mir sagte zu meiner selbst: „Du verstehst das, weil du nicht trinkst.“ 

Das, was in „AA“ als „Denkweise eines Alkoholikers“ oder an anderen Orten als „Alkoholisierter Verstand“ bezeichnet wird, brachte mich in Umstände, nach denen ich das Gefühl hatte, ich müsse wieder Fleisch zu essen anfangen. Dann kam der Alkohol in allen Formen zurück, und es tauchten Menschen auf, die bereit waren, mich „aufzupäppeln“ und ein Bett zu besorgen. Danke an sie. Und dann kam die erste Behandlung nach dem Vorbild der „12 Schritte“, bei der zum ersten Mal gesagt wurde: „Wer trinkt, der denkt nicht; wer denkt, der trinkt nicht.“ 

Und wieder war alles sieben Jahre lang gut. Aber nicht wirklich, denn es war nicht ruhig, denn meine Versuche, die Welt zu unterwerfen, indem ich nur Ansprüche stellte, ließen mich und meine Nächsten nicht unbesorgt leben. Ich dachte: „Was soll ich jetzt tun? – Alle anderen sind Idioten, und ich trinke nicht einmal…“ 

Auch diese sieben Jahre endeten – sie endeten schleichend, mit einem unvollständigen Schluck von etwas „Noblem“, Saurem und Altem. 

Die „AA“-Gruppen fand ich, als ich auf der Suche nach Gruppen für meinen guten Bekannten auf sein Ersuchen war, der seit vielen Jahren in ständigem schwerem Konsum lebt. Solch eine Ironie – ich wollte ihm helfen und half mir selbst. Die Ironie, die sehr gut nachvollziehbar ist. 

Das Konzept von „AA“ fand schnell Anklang bei mir, weil ich alle seine Grundlagen ohne Beweise akzeptierte. Zum Teil, weil ich schon darauf vorbereitet war, zum Teil, weil wenige klare Dinge, die Millionen von Menschen geholfen hatten, einfach getan werden mußten, wobei und erst später klar wurde, warum. Hauptsache, man versucht nicht, das Schöpferische in sich durch Bemitleidung zu ersetzen und die vermeintliche Schuld und die sich eingebildete Scham mit dem vorprogrammierten Tod zu betäuben.

Über @evteleg

Avatar-FotoDer Autor wurde 1967 geboren und wuchs im Ural auf, wo sich bis heute eine seiner geistigen Hochburgen befindet. Er studierte Religion, Ingenieurwesen, Sprachen und Kunst. Nach seinem Studium am Polytechnikum wurde er Erzähler, Übersetzer und Dichter. Musiker wurde er nicht, da man dafür am medizinischen Institut ausgebildet wurde. Seine Texte werden oft in der ursprünglichen Autorenfassung veröffentlicht – mit seiner individuellen Zeichensetzung, seinem Wortschatz und seinem Satzbau.