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Baumstümpfe

Wenn ich erst einmal den Waldrand erreicht habe, freue ich mich über die Stille. Nur Vogelgezwitscher, ab und an das Rauschen der Blätter und nur noch in der Ferne die Geräusche der Zivilisation.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich so gut allein, nur in Begleitung meiner Wanderstöcke laufen kann. Ich fühle mich unabhängig, fast frei und kann zügig laufen, ohne Angst zu haben. Mir fällt eine Situation ein, bei der Reise an die See, mit unserer Selbsthilfegruppe. Wir hatten eine anstrengende Wattwanderung hinter uns und ließen unsere blinden Mitreisenden die letzten 100m bis zum Land, völlig frei, ohne Langstock laufen. Anfangs zögerten sie, doch bald wurden die Schritte schneller und auf ihren Gesichtern breitete sich ein Lächeln aus.

Auch mir ging es anfangs so. Jetzt bleibe ich oft stehen und schau mir die Natur an. Am Anfang des Weges kommt auf der rechten Seite ein kleiner Teich. Er hat etwas idyllisches, aber auch unheimliches. Die Wasseroberfläche ist fast vollständig zu gewachsen, wie ein schwankender Teppich. Der ideale Ort um eine Leiche verschwinden zu lassen, ob er wohl tief genug für ein kühles Grab wäre? Wen möchte ich darin verschwinden lassen?

Und dann faszinieren mich die vielen Baumstümpfe. Sie sind völlig unterschiedlich. Es waren junge und alte Bäume, die meisten gefällt, manche auch vom Sturm gebrochen. Einige haben einen Überzug aus hellgrünem Moos, er erinnert mich an Zuckerguss. An den Wurzeln eines großen Stumpfes wächst eine kleine Fichte, als suche sie Schutz. Bei einem anderen ist nur die Schnittfläche mit Moos überzogen, er erinnert mich an einen Plüschhocker aus den 60er Jahren. Die, die in Gruppen beieinander stehen, erscheinen wie Familien. Sie sind groß und breit oder lang und dünn. Leisten sie sich Gesellschaft? Aber wobei? Sind die Baumstümpfe wie Menschen? Man fällt und es wächst Moos über die Sache Mensch? Die Wurzeln jedoch bleiben und kleine Bäume wachsen in ihrer Nähe heran.

Es könnten auch Lebensabschnitte sein. Eine Lebenszeit endet und es folgt eine neue. Denn wächst kein Pflänzchen mehr, wird das Leben öd. Wird bei mir etwas neues wachsen? Was wird es sein? Ich fühle mich ein bisschen wie Rumi, der nach seiner Zeit mit Schams zum Dichter wurde, was er nie für möglich gehalten hatte.

Über Solveigh

Avatar-FotoHallo, hier meldet sich Antje. Seit 2003 bin ich in einer Selbsthilfegruppe sehbeeinträchtigter und blinder Menschen. Von Anfang an hatte ich Freude am organisieren von Unternehmungen und bin immer wieder begeistert, was alles möglich ist. So eine Gruppe ist für mich Gold wert, ich bin durch sie gewachsen und habe in vielem Sicherheit bekommen. Trotz meines kleinen Gesichtsfeldes (3-5 Grad) bin ich mit meinem Langstock auch viel allein unterwegs. So bin ich dankbar für alles, was noch geht.