Minuten zuvor hatte das Flugzeug von Berlin nach München seine Landung gemeldet, doch er war nicht an Bord. Stattdessen verharrte er seit über einer Stunde in einem nur bedingt schwenkbaren Zugsessel, denn sein Zug würde München erst am folgenden Morgen erreichen. Nach einer Woche in Berlin, die sich als amüsant und gleichzeitig mühsam erwiesen hatte, wurde diese Weiterreise für ihn zu einer schieren Tortur. Die Spree floß unaufhörlich, zählte die in sie geworfenen Metallgegenstände und kräuselte sich lediglich vom Frühlingswind.
Um sicherzustellen, daß er Berlin auch wirklich verließ, hatte er seinen ehemaligen Schulkameraden Harry, einen Freund seit Ewigkeiten, gebeten, ihn zum Bahnhof zu begleiten. Er hatte ja schon erlebt, wie er instinktiv vom Bahnhof weg in eine gänzlich andere Richtung entschwunden war, anstatt die Stadt zu verlassen. Einfach nur fort – „weg vom Fleck“, um der Unannehmlichkeit zu entgehen, wiedererkannt zu werden. Sein treuer Freund humpelte, wie so oft, rechts von ihm her und übersprang dabei die großen grauen Luken und Fliesen im Asphalt. Harrys Fahrrad diente ihm als Stütze und sollte eine zügige Heimkehr nachher ermöglichen. Mit seinen gelbgrünen, wachen und manchmal verschmitzten, aber stets gütigen Augen hatte Harry so tief in seine vergifteten Gedanken geblickt, daß er sich unwillkürlich an Harrys Schwester erinnerte – jene, die er als Mitschüler seines Freundes hatte heiraten wollen. Plötzlich begann die Spree, rückwärts zu strömen.
Als sein Zug auf Berliner Gleise fuhr, war das Zittern der nebligen Erwartung bereits vorbei. Er hatte gewißermaßen nicht den richtigen Waggon betreten und so die eigentliche Abteilbesitzerin, eine ältere Dame, die den Schaffner zur Unterstützung herbeigerufen hatte, aufgeschreckt. Auf seinem anschließenden Weg durch das Zuginnere zum richtigen Waggon 11 verteilte er einen Geruch von Feigenkaffee. Hier, in diesem neuen Abteil, war es kühler und merklich geräumiger. Er ließ sich sofort in seinen zweitklassigen Sessel fallen und blendete die spärlichen Überreste der Tagesrealität aus. Endlich war es dunkel geworden — für eine unbestimmte Zeit.
Nun drängten sich die Bilder der vergangenen Nächte in den Vordergrund. Sie sausten aus einem Winkel seines schwerfälligen Halbtraumes in den nächsten, hielten dort kurz inne und traten dann auf einer runden Bühne vor seine Augen. Einst wesenlos, verkörperten sich diese Gestalten auf der Szene, wurden greifbar und laut. Unsichtbare Soffitten rissen die Geschöpfe aus der Finsternis in den Vordergrund, und die dunklen Ecken verrieten widerwillig deren wortloses Dasein. Da trat der Schaffner zur Fahrkartenkontrolle ein, und er erwachte.
—Online-Ticket? Ihre Kreditkarte bitte.
—Wozu? Muß ich wieder für etwas zahlen?
—Zum Datenabgleich.
Und ja, dieser kleine gelbe Daihatsu vom Vortag! Ein wahrhaftiges UFO. Wie konnten wir alle darin Platz finden? Unser Ziel war ein Ausflug zu den ehemaligen Heilstätten Preußens. Uns empfing die märchenhafte Pracht der Ruinen und ein Gefühl milder Vergessenheit im Kiefernwald. Der Laubwald, der die Dachgerüste seit langem bewachsen hatte, erhob sich nun tief in den hohen Himmel. Alle derartigen Gebäude, die einst kranke Patienten beherbergt hatten, wirkten nun mit ihren abgerissenen Dächern wie Abrahams Opferlamm, das sich mit seinen Hörnern im Busch verfangen hatte.
Wie viele und welch kranke Gedanken mögen wohl durch diese Dächer ins All entwichen sein, sodaß die Klinikstationen nun dachlos dastehen? Warum trifft dies nur auf einige Gebäude zu, auf andere jedoch nicht? Woran mochte das liegen? An der Verweildauer der Patienten oder am Zweck des jeweiligen Gebäudes? Oder lag es gar an den Ärzten, die einen solchen Gedankenstrom während ihrer klinischen Untersuchungen freisetzten und förderten? Diese Fragen beschäftigten ihn, während er sich immer weiter von seinen neuen Bekannten entfernte und tiefer in den Wald zurückzog, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Eine Kälte durchfuhr ihn. Waren es vielleicht die gleichen Untersuchungsmethoden, die sein Urgroßvater seinerzeit als ambitionierter, angehender Psychiater angewandt hatte? Doch wie bezaubernd Frida das Wort „Ja“ ausspricht!
Ein türkisches Viertel mit feinster Pariser Eleganz, mitten am Berliner Stadtrand. Drei- und vierstöckige Häuser mit runden Balkonen, die man beinahe berühren konnte, streckte man nur die Hand aus. Sie weigerten sich, sich hier zu trennen, denn die Umgebung war ihnen viel zu kalt und öd – eine herzlose, verlassene Gegend mit leblosen Gebäuden, deren leere, chaotisch zerstreute Fensterhöhlen die schimmernde Welt anstarrten. Es brauchte jetzt ein Opfer aus Fleisch und Blut, um sich wieder unverloren beieinander zu fühlen.
—Moin! Haben Sie Lammfleisch?
—Jah, wüviel wüllste d´n ´aben?
—Das Stück bitte. Den Knochen bitte herausnehmen und das Filet kleinschneiden.
—Fünfzehn Euro dreißig.
Sie stiegen in die Wohnung hinauf, und schon verschwand das sorgfältig vorbereitete Filet im Topf. Vom Daihatsu-Profi reichlich gepfeffert, begann es sogleich zu dünsten. Alle zehn Minuten goß Frida dunklen, blutroten italienischen Wein aus dem sicheren Vorrat in ihre hohen Gläser. Harry saß indes zu Hause, ohne sich blicken zu lassen. Die Wärme breitete sich aus, und ein säuerlicher Duft nach Heim, nach köstlichem Essen, nach ausgelassener Feier und fast schon nach Liebe erfüllte den Raum. Frida erläuterte ihm Passagen aus dem Norwegischen; ihr Gilbert wollte nach seiner Gitarre greifen, wurde aber noch rechtzeitig und vernünftig sanft gestoppt.
Er spürte, wie etwas in ihm langsam und schläfrig zu tanzen begann. Von allen Wänden starrten ihn Gemälde an, die er aus seinen uralten Albträumen kannte – Gespenster, die sich in Bilder verwandelt hatten. Nur der Hintergrund war jetzt weiß statt schwarz wie damals —wer weiß, warum? Verlieren Geister ihren Hintergrund, wenn sie sich deutlicher machen? Die im Wald aufgenommenen Fotos löschten sich beim Überspielen spurlos – vielleicht aus Unachtsamkeit. Doch das Dach war geblieben. Und der chinesische Wodka schließlich ebenso.
Stunden später rollte der gelbe Daihatsu weiter – von einem Schwulenlokal zum nächsten. Der Daihatsu-Meister genoß die Gelegenheit, seinem hereingeflogenen Gast seine Welt zu zeigen. Die blauen Leuchtreklamen und die futuristische Ausstattung der Lokale verstanden ihr Handwerk meisterhaft: Überall brodelte das Leben. Die weißlich-grauen Blicke der Stammgäste gruben sich tief in sein Gedächtnis, und er bat den Meister, ihn endlich heimzufahren. Das Treppenhaus schien endlos. Die Spree spannte sich fürsorglich an, und die Lichter des DDR-Museums erloschen langsam, als er endlich Harrys Wohnungstür aufschließen und unausgezogen auf der Couch einschlafen konnte.
Endlich war es wieder hell, und dank des von Harry geöffneten Fensters auch nicht mehr so schwül. Ein Blick auf die Uhr zeigte kurz vor acht. Harry schnarchte noch tief und fest, eng an seine Lana gekuschelt. Ein Telefonapparat aus der Siemens-Bundeswehr-Kooperation thronte bescheiden am Rand eines Arbeitstisches, der aus zwei zusammengefügten Brettern war und mitten im Chaos stand. Er war wunderschön grün, fast wie Absinth. Seine Tasten knarrten wie angebrannter Zucker.
—112. Mir ist wahnsinnig übel.
—Äh? Sie haben sich verwählt. 110.
—110. Übel ist mir.
—Wie übel?
—Ich habe so wirre Gedanken, die sich überstürzen.
—Wie ist Ihr Name?
—Franz-Joseph.
—Aha. Und wann sind Sie geboren?
—Das muß Ihnen aus der Geschichte doch bekannt sein.
—Gut. Wie war bitte nochmals Ihr Name?
—Franz-Ferdinand. Sagte ich doch.
Die von ihm freigelassenen Gespenster wurden bei Tageslicht nicht etwa sichtbarer, sondern spürbarer, und ihr Hintergrund war wieder dunkel. Sie nahmen diesmal nicht die Gestalt von Bildern an, sondern wurden zu greifbaren Objekten des Alltags und der Umgebung. Dort vermischten sie sich mit jenen Gespenstern, die von anderen erzeugt und in die Luft geschleudert worden waren. Und diese Objekte lösten sich auf, entrissen sich der greifbaren Realität und wurden zu einer reinen, mentalen Wahrnehmung: die Spree, die Kaimauer, die Kinder, die Lehrer und die wuchtigen Gebäude. So konnten sie fortan wieder wie ein Gespenst wahrgenommen, erzeugt, erzogen, angesprochen oder ignoriert werden.
Hotels und ihre Barkeeper zeigten um diese Uhrzeit Verständnis für ihn, das merkte er. Die Hostels hingegen hatten hostil geschlossen. Nur die Spree nickte und winkte ihm rufend zu. Sie wußte, wie unablässig sich die Gespenster vermehrten und nach neuen, greifbaren Beweisen ihres Daseins suchten. Sie wußte es, doch die Isar, die ihre Wasser ruhig Richtung Wien trug, ahnte noch nichts davon.