Der Sommer kündigte sich früh an in jenem Jahr, in dem ich sechs werden sollte. Die Sonne legte goldene Muster auf den Fußboden unserer Wohnung in der Zeppelinstraße, und ich spürte, dass etwas in der Luft lag. Ein Neuanfang. Für mich, für uns alle.
Ich war endlich meine Schiene los – so nannten wir Polio-Kinder unsere Orthese, die mich so lange beim Laufen gestützt hatte. Auch der unbequeme Gipsstiefel, den ich nachts tragen musste, war verschwunden. Jahrelang hatte er verhindern sollen, dass sich mein rechter Fuß dauerhaft in Spitzfußstellung verformte. Genützt hatte es am Ende wenig – doch was zählte: ich war frei. Fast zumindest.
Mein Vater war ein einfallsreicher Tüftler. Um mir die Nächte mit dem schweren Gips zu erleichtern, hatte er mir einen hölzernen Tunnel gebaut, der wie ein schützender Bogen über meinem Bein lag. So konnte das Federbett nicht auf mein Bein drücken, und ich fand wenigstens ein bisschen Bewegungsfreiheit im Schlaf. Kleine Gesten, große Wirkung.
Der größte Schritt aber stand uns noch bevor: Wir würden umziehen. Unsere Eltern bauten ein eigenes Haus – für damalige Verhältnisse nahezu „behindertengerecht“. Die Treppe war ein kleines architektonisches Meisterwerk: breite, gerade Stufen, ein Podest in der Mitte zum Verschnaufen, dann noch einmal gerade Stufen nach oben. Ganz anders als die gewundene Treppe in der Zeppelinstraße, deren Stufen sich zur Kurve hin verjüngten und mich schon einmal zu Fall gebracht hatten. Seit diesem Sturz war das Treppengeländer mein ständiger Begleiter. Und trotzdem – oder gerade deshalb – nahm ich auch später noch hin und wieder eine Treppe im Flug. Das Leben ist eben nicht immer planbar. Und manchmal muss man einfach drüber lachen.
Doch zurück zum Sommer 1959. Ich hatte einen Wunsch, so klar wie ein Kindertraum: Zur Einschulung wollte ich ohne Gehhilfen gehen – und in glänzenden, schwarzen Lackschuhen mit Riemchen. Dazu ein Kleid, das sich beim Drehen aufplustert wie eine Sahnewolke – mit Petticoat natürlich! Bis dahin hatte ich fast ausschließlich Hosen getragen, aus praktischen Gründen. Meine Lieblingshose war eine Latzhose mit karierten Umschlägen. Im Sommer trugen wir Kinder meistens kurze Lederhosen – robust und ideal, wenn man so oft hinfiel wie wir. Meine war eine echte Mädchenlederhose, mit roten, herzförmigen Taschen und einer roten Kante am Latz. Ich mochte sie sehr. Aber an Sonntagen, bei Besuchen bei der Verwandtschaft, da wollte ich kein „praktisches Kind“ sein. Da wollte ich glänzen. Da wollte ich ein Mädchen sein, das sich im Spiegel dreht und die Röcke fliegen lässt.
Als meine Mutter die Nähmaschine ihrer Tante erbte, begann etwas Magisches. Es war eine dieser schweren, schwarzen Maschinen mit großem Schwungrad, die durch die rhythmische Bewegung eines Tretpedals zum Leben erwachte. Mama meldete sich zu einem Nähkurs an. Ich weiß nicht, wann sie meine Maße genommen oder heimlich genäht hatte – aber eines Tages hing es einfach da, mitten im Wohnzimmer, wie aus dem Nichts: mein Traumkleid. Weiß mit blauen Punkten. Es bauschte sich herrlich und daneben lag das passende Haarband. Meine Mutter lächelte nur und sagte:
„Die Lackschuhe kaufen wir dir auch in den nächsten Tagen.“

Und so war es. Als wir sie gefunden hatten – glänzend schwarz, mit kleinen Riemchen über dem Spann – wollte ich sie gar nicht mehr aus den Augen lassen. Nachts standen sie direkt neben meinem Bett. Mein letzter Blick am Abend und mein erster am Morgen galt diesen Schuhen. Sie waren mehr als ein Paar Kinderschuhe. Sie waren ein Versprechen an die Zukunft.
Heute ist das Schuhe-Kaufen für mich eher eine Geduldsprobe. Der rechte Fuß ist durch die Kinderlähmung kleiner, aber gleichzeitig breiter – und das ganze Bein kürzer. Kein Paar Schuhe kommt mehr ohne orthopädische Anpassung aus. Spontan neue Schuhe anziehen? Nicht möglich.
Aber das stört mich nicht. Denn ich trage bis heute das Gefühl in mir, das ich als Sechsjährige hatte – dieses Leuchten, als ich zum ersten Mal mein Petticoatkleid sah. Die Freude über diese Lackschuhe, das Band in meinen Haaren, das Glitzern in den Augen meiner Mutter. Manche Erinnerungen werden nicht alt. Sie bleiben ein bisschen wie ein weiter Rock in der Drehung – voller Schwung und Hoffnung.