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Das Selbsthilfeparadoxon

Der Duden erklärt den Begriff Herzensangelegenheit als etwas, das „für jemanden ganz persönlich von besonderer Wichtigkeit“ ist. Folgen wir also dem Duden, dann ist die Selbsthilfe für uns alle eine Herzensangelegenheit. Und über etwas, dem man besondere Wichtigkeit beimisst, denkt man auch viel und häufig nach. Jedenfalls geht mir das so. Und daher frage ich mich schon lange, wie Folgendes zusammengeht:

„Selbsthilfe“ ist gerade für die notwendig, die sich selbst eben nicht helfen können.

Das scheint doch paradox!

Ich fürchte, dieser Widerspruch könnte manche davon abhalten, die benötigte Hilfe in einer „Selbsthilfe“gruppe zu suchen. „Ich kann mir doch selbst eben nicht helfen, was soll ich also in einer Selbsthilfegruppe?“.

Das Problem haben wir Selbsthilfeaktiven selbst geschaffen. Wir haben versucht, das, was in unseren Gruppen vor sich geht, in einen kurzen, prägnanten Begriff zu pressen. Was wir eigentlich meinen: Nur die Gesamtheit der Gruppe kann helfen. Und durch den dafür gewählten Begriff „Selbsthilfe“ wird das unscharf. Für uns ist natürlich klar, was gemeint ist. Aber für jemanden, der Hilfe sucht und das Instrument der Selbsthilfe noch nicht kennt?

Nun, an dem Begriff werden wir nichts ändern können. Der ist längst im allgemeinen Sprachgebrauch verwurzelt (was ja auch die erklärte Absicht dabei ist, wenn man eine „griffige“ Bezeichnung erfindet.)

Umso mehr müssen wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit klarmachen, dass wir eben nicht meinen: „Hilf dir mal schön selber“.

Sondern, dass es der Ansatz der Selbsthilfe ist: „Es gibt mehrere Leute, die alle das gleiche Problem haben wie du. Und wenn du deren ganz individuelle Wege kennenlernst, mit dem gemeinsamen Problem umzugehen, kannst du dir aus den verschiedenen Anregungen einen eigenen Weg kombinieren. Einen Weg, der zu dir passt. Den findest du aber alleine nicht (wie du ja schon weißt), dazu brauchst du eine Gruppe.“

Was „Selbsthilfe“ also eigentlich meint: Alle, die daran mitarbeiten, sind (vom gleichen Problem) Betroffene, die versuchen, sich Hilfe zu erarbeiten, ohne „Beratung“ von Außenstehenden. Außenstehenden, die von uns nicht als grenzenlos kompetent anerkannt werden könnten, weil sie unser Problem nicht haben und deshalb auch nicht wirklich kennen können („…hat ja keine Ahnung, wie das wirklich ist, woher auch…“).

Freilich kann die Selbsthilfe nur eines von vielen Mosaiksteinchen sein, die wir Hilfesuchenden uns zusammensetzen sollten. Für Hilfesuchende gilt es, alle Möglichkeiten zu nutzen, die erreichbar sind. Dazu gehören unbedingt auch „Außenstehende“. Genauso dringend wie unsere Selbsthilfegruppe, brauchen wir die Unterstützung von Therapeut*innen, Ärzt*innen, Seelsorger*innen usw. Bei denen ist eine objektive, von unserem Problem freie Betrachtungsweise der Situation notwendig. Wie z.B. sollte therapeutisches Personal einer alkoholsüchtigen Person einen erfolgversprechenden Ausweg anbieten können?

Immerhin: In einem Punkt trifft der Ausdruck „Selbsthilfe“ tatsächlich im Sinne des Wortes zu: Wer sich einer Selbsthilfegruppe anschließt, tut einen wichtigen Schritt, sich „selbst“ zu helfen.

Allein das sollte für uns alle schon Grund genug sein, weiter daran zu arbeiten, dass möglichst viele die Selbsthilfe zu ihrer „Herzensangelegenheit“ machen!

 

Der Text wurde erstmalig veröffentlicht im kiss.magazin, Ausgabe 15 (2020) zum Kiss-Jahresmotto „Herzensangelegenheiten“

Über SuHiEck

Avatar-FotoGeb. 1953, seit 1981 verheiratet, 3 Töchter. Alkoholiker. 2024: "Jubiläum - 20 Jahre ohne". Seit 2004 Mitglied im Verein "Suchthilfe Eckental und Umgebung e.V." und seit 2011 dessen 1. Vorsitzender. Außerdem 1. Vorsitzender des "Gemischten Chors AURORA Oberschöllenbach". SPD-Mitglied (OV Eckental).