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Junge Menschen kreieren ein völlig anderes Zusammenleben

Sind Selbsthilfegruppen zeitgemäß?

Es ist vielleicht in meinem Alter (62 Jahre) nicht unmöglich, jedenfalls aber schwierig, sich in die Lebensart einer/s 25jährigen hineinzudenken. Im Umgang mit unseren drei Töchtern, mittlerweile zwei Schwiegersöhnen und deren Freunden und Bekannten habe ich Folgendes gelernt:

Heutzutage ist man gewohnt, das, was man will oder braucht (und sich leisten kann), zu jeder Zeit sofort bekommen zu können. Die Möglichkeiten dazu ergeben sich vor allem durch die mittlerweile umfassende Online-Vernetzung. Wenn ich nachts um drei eine Information brauche, schalte ich meinen Computer ein und habe das Gewünschte innerhalb weniger Sekunden. Wenn es mir früh um fünf einfällt, mir einen Anzug auszusuchen, kann ich das ebenso auf der Stelle tun. Wenn ich abends um halb elf ausgehen möchte, rufe ich Bekannte auf ihrem Handy an, frage, wo sie gerade sind und gehe dort hin. (Ich stelle bei mir selbst fest, dass ich solche Möglichkeiten zunehmend auch benutze, sie aber wahrscheinlich mein Leben lang als Ausnahmen empfinden werde). Wem ein solcher Organisationsstil selbstverständlich geworden ist, der wird kaum bereit sein, sich auf Jahre hinaus auf einen festen Termin „Gruppenabend immer donnerstags um 19:00 Uhr“ festlegen zu lassen. Nicht, weil sie/er nicht „will“, sondern weil ihr/ihm dies schlichtweg fremd ist.

Ich verdeutliche das veränderte Verhalten einmal am Erfolg des Streetworking: Wenn jemand den Typen zufällig trifft, kann sich daraus durchaus spontan ein langes Gespräch ergeben. Würde der Streetworker aber darauf bestehen, dass man mit ihm einen Termin nächste Woche Mittwoch um fünf ausmachen soll, hätte er ganz schlechte Karten und würde todsicher nächsten Mittwoch vergeblich warten.

Die beschriebene veränderte Lebensorganisation ist meines Erachtens die hauptsächliche Ursache, dass Sport- und andere Vereine, politische Parteien, Laienorchester, Hobbychöre und eben auch Selbsthilfegruppen über Nachwuchssorgen klagen.

Wir dürfen nicht übersehen, dass Menschen, für die die oben gezeigten „neuen“ Möglichkeiten zum alltäglichen Leben gehören – und das ist mittlerweile mehr als nur eine Generation – jetzt gerade ein völlig anders strukturiertes (Zusammen-)Leben kreieren! Wir können uns nicht hinstellen und sagen: „Die machen da etwas falsch“. Schon gar nicht können wir ihnen Oberflächlichkeit vorwerfen. Die Themen (Probleme) werden nur einfach völlig anders bearbeitet, als wir es gewohnt waren.

Es steht zu erwarten, dass auch das „Instrument Selbsthilfe“ sehr bald ganz anders aussehen wird, als wir es kennen. Nur weiß ich auch noch nicht, wie. Ich halte das aber für normal, weil ich mir vor 15 Jahren auch keine Vorstellung davon machen konnte, wie heutzutage ein Lexikon aussieht (z. B. Wikipedia).

Alle Themen, mit denen sich Selbsthilfegruppen beschäftigen, werden inzwischen in entsprechenden Internet-Foren und Chat-Rooms behandelt. Das – teils berechtigte – Misstrauen gegenüber solchen Instrumenten wird sich in absehbarer Zeit erübrigen. Die sogenannte „Community“ (so bezeichnet sich die Gesamtheit der Internetbenutzer selbst) hat schon viel schwierigere Probleme in den Griff bekommen. Eine Lösung im Sinne der Weiterführung des Althergebrachten kann ich nicht sehen. Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass der persönliche Kontakt, der eben nur durch organisierte Treffen möglich ist, unverzichtbar zu einer wirkungsvollen Selbsthilfe gehört.

Selbsthilfegruppen sind also durchaus zeitgemäß!

Aber wir müssen uns alle Mühe geben, potenzielle Gruppenmitglieder oder -interessierte durch die Medien, die ihnen vertraut sind, auf unsere Gruppen aufmerksam und neugierig zu machen. Einfach im Internet die Termine der Gruppentreffen aufzulisten, wird zu nichts führen.

Im Informationsflyer und auf der Homepage unserer Selbsthilfegruppen habe ich einen ersten bescheidenen Versuch gestartet und dort beschrieben, was jemanden eigentlich erwartet, der zu uns kommt. Ich denke, in dieser Richtung müssen wir weiterarbeiten und uns zuerst auf diesen und ähnlichen Wegen „interessant machen“. Solange uns kein neues Instrument zur Verfügung steht als unsere Gruppen, müssen wir „Networker“ sein und erste Hilfen gut auffindbar im Internet anbieten, die dann – vorerst noch – den Weg in unsere Gruppen weisen. Die Schwellenangst abzubauen, indem wir authentisch beschreiben, was eigentlich in einer Selbsthilfegruppe vor sich geht, ist meines Erachtens ein sinnvoller erster Schritt.

 

Der Text wurde erstmalig veröffentlicht im kiss.magazin, Ausgabe 11 (2016) zum Kiss-Jahresmotto „Neubeginn“

Über SuHiEck

Avatar-FotoGeb. 1953, seit 1981 verheiratet, 3 Töchter. Alkoholiker. 2024: "Jubiläum - 20 Jahre ohne". Seit 2004 Mitglied im Verein "Suchthilfe Eckental und Umgebung e.V." und seit 2011 dessen 1. Vorsitzender. Außerdem 1. Vorsitzender des "Gemischten Chors AURORA Oberschöllenbach". SPD-Mitglied (OV Eckental).