Bild: unsplash.com (Vika Strawberrika)

Ein Sommer, der alles veränderte

Es war ein warmer Augusttag im Jahr 1954, als unser Leben sich für immer verändern sollte. Die Sonne schien, wie häufig in diesem Sommer, über unserer kleinen Stadt am Niederrhein, in der mein Bruder und ich aufwuchsen. Der Duft von frisch gemähtem Gras lag in der Luft, und die Glocken der Kirche St. Josef läuteten in der Ferne. Doch in unserem Haus herrschte Unruhe.

Mein Bruder, knapp vier Jahre älter als ich, war vor einer Woche ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Ärzte hatten Poliomyelitis diagnostiziert, eine Krankheit, die in diesen Tagen viele Kinder heimsuchte. Nur eine Woche später traf es auch mich. Ich war erst 13 Monate alt und verstand die Welt noch nicht. Unsere Eltern kämpften jedoch mit ihrer Angst und Verzweiflung, wenn sie uns beide im Krankenhaus besuchten. Wegen der hohen Ansteckungsgefahr waren wir isoliert und sie durften uns lediglich einmal in der Woche durch die kleine Glasscheibe in der Tür sehen.

Die ersten Schritte in ein neues Leben

Die Wochen im Krankenhaus waren hart, doch unsere Eltern gaben nie auf. Sie waren fest entschlossen, dass unsere Kindheit trotz aller gesundheitlichen Schwierigkeiten frei und schön sein sollte. Nach unserer Rückkehr begann zu Hause ein neues Kapitel in unserem Leben. Unser Vater baute für mich einen speziellen Gehring, in dem ich sitzen, aber meine Beine, soweit es mir möglich war, bewegen konnte. Er hoffte, mir auf diese Weise das erneute Lernen des Gehens zu erleichtern. Das hat auch irgendwann funktioniert. Eine Orthese am rechten Bein unterstütze dabei meinen Lerneifer. Heute gibt es diese Lauflernhilfen für Kleinkinder bereits fertig zu kaufen.

Mein Bruder war deutlich schwerer von der Kinderlähmung betroffen und es hieß, er würde wohl nie wieder laufen können. Aber da hatten sich die Ärzte geirrt und den Bewegungsdrang meines Bruders und die unermüdliche Unterstützung unserer Eltern unterschätzt. Nach vielen, jahrelangen Therapien und Reha-Aufenthalten stand auch er, mehr schlecht als recht, wieder auf den Beinen.

Unser Haus lag in einer sehr ruhigen Straße, umgeben von Wiesen und Feldern, die zu unserem Spielplatz wurden. Unsere Mutter erzählte uns Geschichten von tapferen Rittern und mutigen Prinzessinnen, während wir im Garten spielten. An anderen Tagen tobten wir mit Freunden herum, soweit es unsere Schienen es zuließen.

Im Sommer 1954 wütete die Poliomyelitis am Niederrhein. Viele Kinder aus unserer Nachbarschaft waren betroffen. Unsere körperlichen Einschränkungen einten uns, trotzdem spielten wir im Rahmen unserer Möglichkeiten viel mit den befreundeten, gesunden Kindern. Es wurde immer auf den Schwächsten Rücksicht genommen. Das war häufig mein Bruder. So musste er sich zum Beispiel am Baum hochziehen, um auf den Bürgersteig zu gelangen. Landete er auf dem Boden, sagte er meistens: „Alles gut, mir ist nichts passiert. Die Erde ist wie Gummi.“ Das brachte ihm schnell den Spitznamen „Gummi“ ein. Oft hieß es: „Wartet mal, der Gummi liegt wieder am Boden.“ So etwas wie Mobbing kannten wir damals nicht.

Der Duft der Freiheit

Obwohl unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt war, fanden wir immer Wege, unsere Umgebung zu erkunden. Im Winter zogen uns unsere Eltern auf einem Schlitten durch den Schnee, im Sommer gingen wir zum nahegelegenen Pappelsee, wo wir das kalte Wasser auf unserer Haut spürten. Unsere Kleinstadt wurde unser Königreich und wir die unerschrockenen Herrscher.

Gemeinsam Stark

Die Jahre vergingen, und wir lernten, mit unseren Einschränkungen zu leben. Mein Bruder begann, seine eigene Stärke zu finden, indem er lernte, aus der Kraft des Oberkörpers heraus Handball zu spielen. Ich entdeckte meine Liebe zur Malerei und verbrachte Stunden damit, alles, was ich sah auf Leinwand zu bannen.

Unsere Eltern unterstützten uns in allem, was wir taten, und ermutigten uns, unsere Träume zu verfolgen. Ihnen war wichtig, dass wir Kinder uns immer unsere Fröhlichkeit bewahren und ein zufriedenes Leben führen. Wir nahmen an Schulveranstaltungen teil, und obwohl wir oft länger brauchten als die anderen Kinder, ließen wir uns nie entmutigen. Allerdings wurden wir trotz Handikap im Sportunterricht wie alle anderen benotet; das ließ meinen Bruder oft seine Fröhlichkeit vergessen, so sehr ärgerte er sich über eine schlechte Note.

Das Leben feiern

Unsere Kindheit war geprägt von Freude und Abenteuerlust, trotz der Herausforderungen, die uns die Erkrankung an Kinderlähmung gestellt hatte. Wir lernten, dass Freiheit nicht durch körperliche Fähigkeiten definiert wird, sondern ein vielschichtiges Konzept ist. Unsere Eltern gaben uns schon früh die Freiheit, persönliche Entscheidungen zu treffen, verbunden mit der Verantwortung, auch die Konsequenzen zu tragen.

Ich höre heute noch unsere Mutter sagen: „Entscheidet immer so, dass ihr glücklich und zufrieden seid, aber bedenkt, eure Freiheit endet dort, wo die Freiheit der anderen beginnt.“

Die kleine Stadt war unser Paradies, und jeder Tag für uns ein Fest des Lebens. Wir wuchsen heran, wurden stark und selbstbewusst, bereit, die Welt zu erobern. Denn trotz allem war unsere Kindheit schön und frei – ein Zeugnis der unerschütterlichen Liebe und des unermüdlichen Mutes unserer Eltern und Familie.

Mein Bruder ist vor wenigen Jahren an Krebs verstorben.
So blicke ich jetzt allein zurück auf diese Zeit, nicht mit Bedauern, sondern mit einem Lächeln. Denn die Liebe und die Unterstützung, die ich erfuhr, formte mich zu dem Menschen, der ich heute bin. Und dafür bin ich unendlich dankbar.

Über Ankh

Avatar-FotoHallo! Mein Name ist Ankh und ich bin nicht nur seit 17 Jahren ehrenamtlich für eine Selbsthilfegruppe tätig, sondern auch leidenschaftliche Autorin (im Moment vorrangig von gesundheitsbezogenen Themen), aber auch Malerin und Fotografin. In diesem Blog möchte ich nicht nur meine Erlebnisse teilen, sondern auch Sichtweisen, Beobachtungen und Erfahrungen weitergeben, die wir alle in unserem Leben machen dürfen. Geschichten über Menschen, Kulturen oder Traditionen zu erzählen, soll im besten Fall andere dazu inspirieren, ebenfalls offen für neue Erfahrungen zu sein.